Wolfram Siebeck: Sommermärchen vom Wirte wundermild

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hießen Hans und Grete und hatten zu Hause nichts zu essen, weil alle Geschäfte Betriebsferien machten. So setzen sie sich in ihren Volkswagen und fuhren aufs Land. Da aber viele Umleitungen waren, verfuhren sie sich und kamen in einen großen Wald. Und wie sie lange darin herumgefahren waren und kein freies Zimmer fanden, weil alle Hotels überfüllt und alle Pensionen besetz waren, da kamen sie an ein haus, das war über und über bedeckt mit Empfehlungsschildern der Automobilclubs und Reisebüros.
Hans und Grete hielten ihr Auto an und fragten das Fräulein am Eingang, ob sie ein Zimmer haben könnten. Das Fräulein erwiderte: „Ja, wir haben noch ein Doppelzimmer frei“ (denn dies ist ja ein Märchen). Das Fräulein war aber kein Fräulein, sondern die Tochter des Wirtes, und sie sagte:
„Wenn Ihr hier wohnen wollt, müsst Ihr die Schuhe selber putzen und die Betten machen, denn wir haben kein Personal!“
Sie brachte Hans und Grete in eine winzige Kammer, darin standen zwei winzige Betten und zwei winzige Stühle, und an der Wand war ein winziges Waschbecken. Als Hans seine Zahnbürste dahin stellte, sagte er: „Wer hat aus meinem Zahnputzglas getrunken?“, und Grete, die ihr Nachthemd aufs Bett legte, rief: „Wer hat in meinem Bettchen geschlafen?“
Das hörte der Wirt im Keller, denn die Wände waren dünn im Haus, und er sprach zu dem Gesellen: „Lauf in die Küche, Bursche, und sag der Herrin, es sind neue Gäste gekommen, und sie möge einen Liter Wasser und ein halbes Pfund Salz in die Suppe tun, aber subito*, capito**?“, und der Bursche lief kantapper kantapper die Treppe hinauf.
Hans und Grete saßen schon am Tisch, denn sie waren hungrig, und die Vollpension kostete pro Person 21 Mark plus Kurtaxe plus 15% Bedienung. Des Wirtes Töchterlein trug ihnen Gebackenes und Gesottenes auf, da fielen sie hin und waren wie tot. Die Wirtin hatte ihnen nämlich ein Rumpsteak gebraten, das war überhaupt nicht abgehangen. Als man Hans und Grete darauf in ihr Zimmer trug, schlug vom nahen Kirchturm die Glocke so laut, dass sie wieder wach wurden. So ging es die ganze Nacht.
Als der Wirt am anderen Morgen merkte, dass Hans und Grete noch einen weiteren Tag bleiben wollten, überfiel ihn großer Zorn. Voll Grimm nahm er die deutsche Markenbutter vom Frühstückstisch und presste sie so zusammen, dass das Wasser in großen Strömen daraus hervorschoss.
Hans aber ließ sich nicht ins Bockshorn jagen und rief: „Ich habe Touropa ertragen und Scharnow überstanden, die Riviera hab ich verkraftet und die Nordsee überlebt, da wer ich dich, du böser Wirt, auch nicht fürchten!“
Wie der Wirt diese Worte hörte, da war ihm ganz wunderlich zumute, und ahnungsvoll fragte er den Hans: „Deine Kühnheit ist mir merkwürdig vertraut, Fremder. Sag mir, wer dein Vater ist!“
Und Hans antwortete ihm: „Meinen Vater kenn ich nicht. Es heißt, er war ein tapferer Soldat und leitete eine große Kantine. Als der Krieg zu Ende war, tauschte er mich gegen ein Schwein auf dem Markt ein.“
Da rief der Wirt: „Dein Vater bin ich, und das Schwein tauschte ich gegen einen Klumpen Gold, damit baute ich dieses Haus, das soll jetzt dir gehören!“
Da herzten und küssten sie sich, und die Wirtin wurde gerufen und das Töchterlein, und die hießen die beiden herzlich willkommen.
Hans und Grete aber verkauften ihren Volkswagen, denn der Wirt hatte schon zwei Mercedes, und von de Erlös bestellten sie eine Musikbox, die kam in den Speisesaal. Dann heiratet die Tochter den Gesellen, und so sorgten sie sich alle sechs um ihre Gäste und gaben ihnen Speis und Trank und lebten davon herrlich und in Freuden.
Und da sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.


*: bedeutet schnell ; **: bedeutet verstanden

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