Thema: (Fotostory) Klaudia - Farben der Sehnsucht
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Alt 10.08.2014, 18:25
Stev84 Männlich Stev84 ist offline
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Kapitel 29: Zeit heilt alle Wunden

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Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Ständig musste ich an meine Schwester denken und so war ich froh, als endlich die Sonne aufging und ich mich zu der Adresse begeben konnte, die sie mir genannt hat. Aber als ich dann vor dem Haus stand, konnte ich mich doch nicht so recht überwinden, anzuklopfen. Mir waren in der Nacht all die schlimmen Dinge wieder eingefallen, die meine Schwester mir und unserer Mama angetan hatte. Wie viele Nächte hatte ich zu Tode erschrocken und weinend eingeschlossen in meinem Zimmer verbracht, während sie im Nebenzimmer mit ihren Freunden Drogen nahm und sich anschließend sexuell mit ihnen vergnügte. Wollte ich sie wirklich wieder in mein Leben lassen?

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Doch diese Entscheidung nach Kinga mir ab, als sie selbst auf die Veranda hinaustrat. Und auf ihrem Arm hielt sie einen kleinen Jungen. „Wir haben dich schon eine Weile durch das Fenster beobachtet, Klaudia“, sagte sie zur Begrüßung. „Ich bin froh, dass du meiner Einladung gefolgt bist. Ich war mir nicht sicher, ob du wirklich kommen würdest. Aber es gibt so viele Dinge, die ich dir erzählen möchte.“

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„Und das Wichtigste siehst du hier auf meinem Arm.“ Langsam stieg ich die Stufen der Veranda hoch, fasziniert von dem kleinen Jungen, den meine Schwester hielt. „Das ist mein Sohn David“, stellte Kinga ihn mir vor, als ich vor ihr stand und küsste ihren Sohn auf den Kopf. „Und das ist deine Tante Klaudia“, flüsterte sie dem kleinen Jungen zu, der mich verschüchtert aus großen, dunklen Augen musterte.

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Ich war sprachlos. Meine Schwester hatte also bereits ein Kind und ich war ohne es zu wissen Tante. „Willst du auf den Arm deiner Tante?“, fragte Kinga ihren Sohn und drückte ihn mir umgehend in die Arme, als dieser nicht protestierte. Er war so klein und süß. Ich war sofort verliebt. Und offenbar gefiel es auch dem kleinen David von mir auf dem Arm gehalten zu werden, denn er lachte vergnügt.

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Dann führte Kinga mich in das Innere des Hauses und auch dort wartete schon die nächste Überraschung auf mich. Ein Mann im roten T-Shirt stand im Wohnzimmer und reichte mir die Hand. „Und das ist mein Mann, Olek“, stellte meine Schwester mir den Unbekannten vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Ich war überwältigt. Kinga hatte sich also in all den Jahren eine richtige Familie aufgebaut. Sie war verheiratet und hatte einen Sohn. Ich hatte in den vergangenen 13 Jahren oft an Kinga gedacht und mich gefragt, wie ihr Leben wohl aussehen mochte, aber ein Mann und Kinder kamen darin nie vor. Und das überraschendste war, dass meine Schwester mit ihrer kleinen Familie richtig glücklich wirkte.

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Mein Schwager Olek nahm uns David ab, damit Kinga und ich uns in Ruhe unterhalten konnten. Wir setzten uns auf das Sofa und meine Schwester begann das Gespräch mit einer Entschuldigung. „Es tut mir so leid, wie ich dich vor meinem Weggang behandelt habe. Ich war blind vor Wut…und die Drogen haben die Sache auch nicht besser gemacht. Du bist meine kleine Schwester und ich hätte dich beschützen müssen, statt dich zu verängstigen und dich zu terrorisieren. Kannst du mir verzeihen, Klaudia?“ Natürlich konnte ich das. Alle Zweifel, die mich heute Morgen noch geplagt hatten, waren mit einem Mal wie weggeblasen. Kinga war meine Schwester und ich erkannte mit einem Blick, dass sie sich geändert hatte.

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Meine Schwester war sehr erleichtert über meine Antwort. Und ich war neugierig geworden. Ich wollte wissen, wie es ihr in den letzten 13 Jahren ergangen war. „Die ersten Wochen und Monate, nachdem ich von Zuhause fort musste, waren wirklich hart. Der Entzug…und erst die Zeit danach.“ Der Blick meiner Schwester schweifte für einen Moment in weite Ferne, doch sie fing sich schnell wieder. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich Mutter verflucht habe, dass sie mich in die Obhut von Tante Joanna gegeben hat. Aber im Rückblick kann ich sagen, dass es die richtige Entscheidung war. Ich habe selbst Angst davor mir vorzustellen was aus mir geworden wäre, wenn keiner eingegriffen hätte. Und vermutlich hätte ich dann auch Olek nie kennengelernt. Er hat in der Einrichtung gearbeitet, in die ich gebracht wurde. Und je näher ich ihn kennenlernte, desto mehr verliebte ich mich in ihn.“ Bei den letzten Worten blickte sie verliebt zu ihren Mann, der mit David auf dem Boden spielte.

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Dann erhob sie sich vom Sofa und holte ein Fotoalbum aus dem Bücherregal. „Vor drei Jahren haben wir geheiratet.“ Sie öffnete die Seite mit den Hochzeitsfotos. „Es war nur eine kleine Feier, bei uns im Garten. Olek und ich sind schon seit 11 Jahren ein Paar. Und in Twinbrook haben mir uns ein richtiges Heim aufgebaut. Wir leben nicht im Luxus und Twinbrook ist ein verschlafenes, sumpfiges Nest, aber ich bin glücklich dort. Wir sind dort hingezogen, als Olek einen Job bei der Lama-GmbH angeboten bekommen hat. Dafür musste ich zwar meinen Job als Flugbegleiterin aufgeben…schau nicht so überrascht, Klaudia, ich hatte Tante Joanna als Vorbild, als hab ich ihr nachgeeifert…aber in Twinbrook habe ich dann bei der Feuerwehr angefangen.“ Jetzt machte ich noch größere Augen, als bei der Verkündung, dass meine rebellische Schwester eine freundlich lächelnde Stewardess geworden war. „Der neue Job erfüllt mich. Ich kann mich körperlich austoben und habe das Gefühl, gebraucht zu werden. Als Olek mir an unserem Jahrestag vor zwei Jahren einen Antrag machte, musste ich nicht lange überlegen ob ich seien Frau werden wollte.“ Kinga strahle, während sie mir die Geschichte erzählte.

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„Und bald darauf wurde David geboren. Er war nicht geplant. Wie du dir vielleicht vorstellen kannst, wollte ich nie Mutter werden. Ich wusste, dass ich eine furchtbare Mutter werden würde. Und nach all den schlechten Erfahrungen mit unserer eigenen Mutter, wollte ich das einem kleinen, unschuldigen Kind nicht antun. Und ich wollte in meinem Beruf voran kommen. Ein Kind passte nicht in meine Lebensplanung. Als ich merkte, dass ich schwanger war, musste ich lange überlegen, ob ich das Kind behalten wollte. Olek hätte mich bei jeder Entscheidung unterstützt. Und die Zweifel blieben, bis…bis ich Davids ersten Tritt spürte. Und als ich ihn in den Armen hielt, wollte ich mich nie wieder von ihm trennen. David ist mein ein und alles.“

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„Seine Geburt hat mir deutlich gemacht, wie viel einem die Familie bedeuten kann. Ich hab meine verloren. Aber ich möchte nicht, dass es meinem Sohn auch so ergeht. Deshalb bin ich jetzt zu dir gekommen. Olek hat keine Familie mehr. Seine Eltern sind beide schon vor langer Zeit gestorben und er hatte keine Geschwister. Aber ich habe eine Schwester. Dich. Und mein Sohn soll eine Tante haben.“

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„David könnte aber auch noch einen Onkel und zwei liebende Großeltern haben“, warf ich vorsichtig ein. Ich war immer noch der Meinung, dass Kinga auch zu unseren Eltern gehen sollte. Es gab sogar noch viele weiter Onkel und Tanten für David, wenn Kinga auf ihre vier Halbgeschwister Miranda, Hans, Desdemona und Elvira zugehen würde. Doch diesen Gedanken behielt ich erst einmal für mich. Ich biss schon mit dem ersten Vorschlag auf Granit. „Nein Klaudia. Dazu bin ich nicht bereit. Dein Bruder Sky ist nicht mein Bruder. Er ist ein Fremder für mich und ich bin eine Fremde für ihn. Und Dominik…er ist einfach nicht mein Vater. Er hat mich aufgezogen und dennoch. Ich fühle nichts für ihn. Es tut mir sehr leid, dir das sagen zu müssen aber es ist so.“ Dieses Geständnis meiner Schwester machte mich sehr traurig, insbesondere wenn ich daran zurückdachte, wie sie Papa als Kind vergöttert hatte.

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„Und Mutter? Nun, man sagt, die Zeit würde alle Wunden heilen, aber das stimmt nicht. Manche Wunden heilen einfach nicht. Sie hat mir den einen Vater genommen und mir den anderen vorenthalten. Ich kann ihr nicht verzeihen. Ich kann es einfach nicht. Ich bin inzwischen so weit, dass ich sie nicht mehr verabscheu. Und manchmal denke ich sogar an die schönen Momente zurück, die wir gemeinsam hatten, so selten diese Momente auch waren. Mutter war einfach immer kalt mir gegenüber. Ich verstehe heute besser, wieso sie so war, aber verzeihen kann ich ihr dennoch nicht. Und daran wirst du auch nichts ändern können, kleine Schwester.“

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Ich sah ein, dass ich meine Schwester nicht umstimmen würde können…zumindest jetzt noch nicht. Vielleicht war Zeit doch in der Lage, alle Wunden zu heilen. Und wenn Kinga und ich wieder ein gutes Verhältnis zueinander aufbauen würden, dann würde vielleicht auch in ihr der Wunsch aufkeimen, sich unseren Eltern wieder zu nähern. In der Zwischenzeit genoss ich die gemeinsame Zeit mit meine Schwester und meinem Neffen David. Kinga und Olek würden noch heute Abend nach Twinbrook zurückkehren. Aber wir schworen uns, den Kontakt nicht mehr abbrechen zu lassen.

Geändert von Stev84 (08.11.2014 um 14:49 Uhr).
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