"Liam, wir sind bald da! Versprochen, Aaron hat sich nur verfahren, weil er nicht auf das Navigationsgerät hören wollte und wir die falsche Ausfahrt genommen haben. Oh, das wird so schön, Liam! Wir können...- Nathanael, hör auf, herumzuquengeln, hier, willst du nicht wieder mit deinem Teddy spielen? ... Wo war ich?", blubberte meine Schwester mir ohne Punkt und Komma ins Ohr, ihre Stimme wurde von dem typischen Geräusch von Reifen, die über die Straße rollten untermalt und hin und wieder von einer krähenden Kleinkinderstimme unterbrochen.
"Himmel, Leila... Du bist anstrengender als die Zwillinge, als sie ihre Zähne bekommen haben", entfuhr es mir entnervt.
Für eine Sekunde hasste ich Emma wirklich aus tiefstem Herzen dafür, dass sie vorgeschlagen hatte, meine Schwester einzuladen. Unser Kontakt hatte aus unregelmäßigen Anrufen bestanden und hin und wieder Postkarten, wenn einer von uns beiden irgendwo ins Ausland gefahren war.
Was hatte meine Freundin also geritten, mir meine quengelige, jüngere Schwester auf den Hals zu hetzen? Noch dazu, wenn sie ein Kleinkind im Gepäck hatte, das scheinbar ihr quirliges Wesen geerbt hatte?
"Wir könnten uns ab jetzt regelmäßiger treffen. Aaron hat sowieso schon um eine Versetzung gebeten und wir könnten uns ja ein schmuckes Häuschen in eurer Nähe suchen! Das wäre doch wunderbar, oder nicht? Dann könnten deine Kleinen und Nate zusammen spielen und aufwachsen!"
Meine Schwester in meiner Nähe... für einen Moment entgleisten mir meine Gesichtszüge. Himmel. Hatte sich die gesamte Frauenwelt gegen mich verschworen?
"Klar", brachte ich irgendwie hervor und hoffte, dass es einigermaßen begeistert klang.
Es war ja nun nicht so, dass ich meine Schwester hasste. Sie war nur das komplette Gegenteil zu mir, war schon immer der Wirbelsturm im Haus gewesen, auch, als wir noch bei unseren Eltern gewohnt hatten.
Und die letzten Monate, die sie - Emma ganz ähnlich - im puren Mutterglück verbracht hatte, schienen daran nicht das Geringste geändert zu haben.
"Liam, hör zu, ich muss jetzt auflegen, da ist eine Raststätte und ich glaube, Nate muss aufs Klo. Musst du doch, oder, Spätzchen? Deshalb bist du doch so... ja. Ja, dachte ich mir schon. Also, wir sind bald da! Eine Stunde vielleicht, oder, Aaron? Oder?"
Ich glaubte, ein verzweifeltes Seufzen zu hören, das von meinem Schwager zu kommen schien.
"Ist schon in Ordnung, Leila. Wirklich. Konzentriert euch auf die Straße, wir gehen schon nicht weg", würgte ich sie ab und hängte, als ich Emmas mahnenden Blick spürte, eine flüchtige Verabschiedung an.
"Du hast keine Ahnung, was du dir damit antust", ließ ich sie drohend wissen und schüttelte den Kopf.
"Natürlich nicht. Deshalb habe ich sie ja eingeladen", erwiderte Emma grinsend und stellte sich auf Zehenspitzen, um den Größenunterschied zwischen uns zu überbrücken und ihre Lippen auf meine zu drücken.
"Liam, die Tür!", hallte Emmas Stimme eineinhalb Stunden später aus dem Schlafzimmer synchron mit dem Schellen der Klingel durch das Haus.
"Daddy, die Tür", echote Noelle, die es sich hinter mir mit ihrem Lieblingsspielzeug, ihrem Krokodil Lady, auf dem Boden gemütlich gemacht hatte und das Plastikding klackernd über die Fliesen springen ließ.
"Ich komme ja schon", rief ich entnervt, als die Klingel zum zweiten Mal innerhalb einer halben Minute losging, gefolgt von einem viel genervteren "Liam, mach endlich!" aus dem Schlafzimmer.
Schnaubend zog ich die Tür auf und trat dann einen Schritt zur Seite, bis Leila zusammen mit ihrem Mann Aaron und ihrem kleinen Sohn aus der Winterkälte in unsere Wohnung treten konnten.
Als wäre es vollkommen selbstverständlich schälte meine Schwester sich aus ihrer Winterkleidung, drückte mir den nach nasser Wolle riechenden Mantel in die Hand und verfuhr ähnlich mit der Kleidung ihres Mannes und ihres Sohnes.
Ein wenig perplex blinzelte ich sie an, ehe ich sämtliche Kleidungsstücke an die Garderobe hängte.
Und dann sah ich mich Leila gegenüber und wusste partout nicht, was ich sagen sollte.
Sie taxierte mich einige Sekunden lang mit einem prüfenden Blick, dann fiel sie mir mit einem gequietschten "Liam, wie schön, dich endlich zu sehen" um den Hals. Sie roch noch immer nach Erdbeeren und ihre Umarmung fühlte sich so warm und weich und nach Zuhause an, dass ich gar nicht anders konnte, als meine kleine Schwester herzlich an mich zu drücken.
"Du hast mir gefehlt", flüsterte sie mir ins Ohr und drückte mir dann überschwänglich einen Kuss auf die Wange, ehe sie sich von mir löste.
Aaron nickte mir lediglich zu, etwas, wofür ich ihm dankbar war. Nicht, dass ich meinen Schwager nicht mochte - aber zu viel Zuneigung und Herzlichkeit war mir dann doch suspekt.
"Wir haben uns noch einmal verfahren... Das blöde Ding konnte sich einfach nicht entscheiden, ob wir nach links oder nach rechts mussten. Und der ganze Schnee auf den Straßen! Himmel, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie anstrengend das war. Und dann die ganze Zeit Nates Gequengel zu ertragen, das ist die Hölle. ich weiß nicht, was nerviger war... sein Gequengel, weil er aufs Klo musste oder die ständig falschen Richtungsangaben", riss Leila dann, ehe ich auch nur eine Silbe hervorbringen konnte, das Wort an sich, lief wild gestikulierend durch das Wohnzimmer.
Ich konnte Emmas Schritte langsamer werden hören, je näher sie meiner plappernden Schwester kamen. Es grenzte an ein Wunder, dass die beiden sich nur so flüchtig kannten. Hin und wieder hatten sie sich in der Highschool gesehen. Mehr Chance zum Kontakt hatte es für die beiden nicht gegeben, denn als Emmas und meine Freundschaft sich so weit vertieft hatte, dass wir praktisch im Haus des jeweils anderen ein zweites Zuhause sahen, war meine Schwester zu einem Auslandsjahr aufgebrochen.
"Habt ihr Hunger? Ich hab' gekocht", überbrückte ich die Stille, die mit einem Mal herrschte, und wies vage hinter mich auf die Küchenzeile.
Leila legte einen Moment den Kopf schief, lächelte dann.
"Natürlich!"
"Und ihr beide seid jetzt fest zusammen?", hakte meine Schwester schließlich nach, als Emma sich zu uns gesellt und sich - primär Aaron, der sie tatsächlich noch nie gesehen hatte - vorgestellt hatte, und wedelte mit ihrer Hand zwischen meiner Freundin und mir hin und her.
Ich verschluckte mich beinahe, stieß ein leises Röcheln aus.
"Nein. Ich hatte einfach Lust auf Kinder und Liam war gerade in Reichweite", antwortete Emma trocken und brach damit vollends das Eis.
Tatsächlich waren sämtliche von Emmas Befürchtungen - die sie nie geäußert hatte und die man ihr allerdings trotzdem angemerkt hatte - unbegründet. Sie verstand sich so gut mit meiner Schwester, als wären sie schon seit langer Zeit Freundinnen.
Tatsächlich erwischte ich sie sogar, während Aaron sich kurz aus unserem Sportlergespräch entschuldigt hatte, dabei, wie sie die Köpfe zusammensteckten und über irgendetwas tuschelten.
Was auch immer es war, das Leila meiner Freundin verraten hatte - ich beschloss, dass ich es gar nicht erst wissen wollte. Es war ein Frauengespräch, in das ich mich unter keinen Umständen einmischen wollte.
Und das musste ich auch nicht, denn schon wenig später zupfte Noelle an meinem Hosenbein, streckte ihre kurzen Ärmchen nach mir aus.
"Daddy, hoch", forderte sie mich mit einem Tonfall auf, den sie zweifellos von Emma hatte.
Kopfschüttelnd hob ich meine Tochter auf meinen Arm, legte den Kopf schief, als sowohl Emma, als auch Leila mich mit einem undefinierbaren Blick musterten.
"Was denn?"
"Man merkt, dass sie deine Tochter ist", stellte Leila schmunzelnd fest und erntete ein zustimmendes Brummen von Aaron, der vom Badezimmer zurückgekehrt war.
Einen Moment lang betrachete ich Noelle, die mit dem Bändchen meines Pullovers spielte. Natürlich ließ sich die Ähnlichkeit nicht leugnen. Meine Haarfarbe, meine Augen. Und mein Starrsinn, wie Emma nicht müde wurde, zu betonen.
"Natürlich ist sie meine Tochter", grinste ich dann und stupste ihr auf die Nase, was sie mit ihrem glucksenden Lachen belohnte, das mir noch immer dieses grenzdebile, strahlende Lächeln, das frisch gebackenen Eltern zu eigen war, entlockte.
"Euer Rotschopf ist hartnäckig", stellte Aaron trocken fest und blickte demonstrativ von Leila zu mir und dann zu dem kleinen Nathanael, der sich mit Faye an dem Spieltisch vergnügte, den ich ihnen in weiser Vorraussicht aus dem Kinderzimmer ins Wohnzimmer geschleppt hatte.
Der Kleine schien sich blendend mit seiner Cousine zu verstehen. Die beiden teilten sich Bauklötze und Knetmasse, tauschten hin und wieder die Plätze, um die Knetmassetiere des anderen fachmännisch zu verschönern. Oder zu verunzieren, wenn man den Brei ansah, der wohl Noelles Platz gewesen war und weshalb sie wahrscheinlich zu mir geflüchtet war.
Eine ganze Weile lang unterhielten wir uns noch, sahen den Kindern - denn Noelle hatte sich nach kurzem Zögern auch wieder an den Spieltisch gesellt - dabei zu, wie sie undefinierbare Mutanten formten, die wir dann als Tiere erkennen sollten.
"Was haltet ihr davon, zum Winterfest zu fahren?", schlug Emma schließlich vor und wies mit dem Daumen hinter sich, nach draußen, "das Wetter ist perfekt dafür und wir waren so lange auf keinem Fest mehr."
Leilas Augen leuchteten schon bei der Erwähnung des Namens auf, in Windeseile hatte sie Nathanael in seine Winterkleidung gepackt.
"Wir fahren euch einfach hinterher, in Ordnung?"
Schmunzelnd nahm ich Emma Noelles Schneeanzug ab, lockte mein Mädchen zu mir und half ihr mit viel gutem Zureden dabei, ihre Arme nicht in die für die Beine vorgesehenen Enden zu stecken.
Es dauerte nicht besonders lange, bis die Kleinen quengelnd danach verlangten, an der Kinderspielecke abgegeben zu werden. Das Mädchen, das dort bereits auf eine Handvoll anderer Kinder im Alter von Noelle, Faye und Nathanael aufpasste, versicherte sowohl Emma, als auch Leila, dass die Kinder in besten Händen wären. Und sollte irgendetwas passieren, so versprach sie, würde sie uns sofort über die Lautsprecher zur Kinderecke beordern.
Zögernd ließen wir unsere Kinder zurück, begaben uns in den Tumult, der rings um uns herum herrschte.
Schon bald verabschiedete Leila sich mit einem eindeutig leidend aussehenden Aaron in Richtung der Fotokabinen, ließ Emma und mich mitten in einem Saal stehen.
"Sieh mal", wies ich meine Freundin schließlich auf die breite Plattform in der Mitte hin, konnte das Grinsen nicht unterdrücken.
Eine ihrer Augenbrauen wanderte nach oben, als sie von der Schlittschuhbahn zu mir blickte.
"Das ist nicht dein Ernst."
"Was denn, vertraust du mir etwa nicht?", neckte ich sie und zog sie mit mir, drückte dem Jungen, der Schlittschuhe verlieh, einen Geldschein in die Hand.
"In keinster Weise", erwiderte Emma, nachdem sie mir - genauso unsicher wie damals auf der Rollschuhbahn - auf die vereiste Fläche folgte.
"Wieso das denn?", hakte ich amüsiert nach und griff nach ihren Händen, drehte mich langsam mit ihr um die eigene Achse.
"Das letzte Mal, als ich mit dir auf so einer Bahn stand, habe ich eine waschechte Bruchlandung hingelegt."
"Das war nicht meine Schuld", zog ich sie auf und wich ihrem Schlag aus, der wohl meine Schulter treffen sollte.
Schwankend und mit großen Augen blieb sie auf der Bahn stehen, sah allerdings nach nur einem Schritt in meine Richtung so wackelig aus, dass ich reflexartig nach ihrer Hüfte griff und sie festhielt.
"Siehst du, ich passe auf dich auf."
Emma setzte zu einer Erwiderung an, wurde allerdings von einer Stimme, die verdächtig nach meiner Schwester klang, unterbrochen.
"Darf ich die Turteltauben unterbrechen und zu einer Schneeballschlacht auffordern?"
Skeptisch zog ich eine Augenbraue nach oben. "Sind wir dafür nicht ein wenig zu alt, Schwesterherz?"
Emmas Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen, als sie sich von mir abstieß und mehr schlecht als recht an der Bande landete.
"Nur, wenn wir Frauen gegen die Männer antreten!"
Ich warf Aaron einen kurzen Blick zu, der mit dem Ansatz eines Grinsens die Schultern hob, als wollte er was soll man schon dagegen tun sagen.
Seufzend schlitterte ich über die Eisfläche, folgte meiner Schwester nach draußen.
Und auch, wenn ich das nicht zugeben wollte: Es machte Spaß. Es machte unglaublich Spaß, ihre Gesichter zu sehen, kurz, nachdem ein Schneeball sie getroffen hatte. Emma sah wunderschön aus mit ihren rosigen Wangen und den Schneekristallen, die in ihrem Haar und in ihren Wimpern glänzten.
Und es war schön, Zeit mit meiner Schwester zu verbringen. Auch, wenn ich das niemals geglaubt hätte, aber in diesem Moment fühlte es sich gut an. In diesem Moment kam mir der Gedanke, dass es überhaupt nicht schlimm wäre, sie in der Nachbarschaft zu wissen.
In diesem Moment spürte ich, dass mein Leben
perfekt war.
Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass es ewig so bleiben würde.