Vor genau einem Jahr und neunzehn Tagen habe ich mein altes Leben hinter mir gelassen. Die Hektik Berlins habe ich gegen eine beschauliche, kleine Gemeinde eingetauscht. Unweit von Frankfurt am Main, umgeben von sanften Hügeln, dichten Wäldern, Wiesen, Feldern und malerischen Seen, liegt sie: Greiffenstein. Erstmals in einer von Karl dem Dicken (*839, † 888) ausgestellten Urkunde als
grifonstein erwähnt, blickt die kleine Stadt auf eine lange und abwechslungsreiche Geschichte zurück. Streitigkeiten zwischen den verfeindeten Burgherren im Nordwesten und Südosten, Dürreperioden und Pestzüge bedrohten einst Land und Leute. Es folgten Auseinandersetzungen um den rechten Glauben, Aufstände, Emanzipationsbestrebungen... Auch die großen Kriege des 20. Jahrhunderts hinterließen ihre Spuren.
Heute muss man allerdings schon etwas tiefer graben, möchte man diese Zeugen vergangener Zeiten mit eigenen Augen bestaunen. Wer sich als Tourist nach Greiffenstein verirrt, wird sich vor allen Dingen im historischen Altstadtkern mit seinen ordentlich sanierten Fachwerkhäusern wiederfinden, vielleicht auch auf der alten Nordburg oder an einem der zahlreichen Gewässer. Er wird Menschen begegnen; alten und jungen, gesunden und kranken, alleinstehenden und vergebenen, netten und weniger freundlichen... Und vielleicht wird er für einen Moment innehalten und sich fragen, ob hinter dieser kleinen, gepflegten Idylle und hinter dem freundlichen Lächeln, mit dem die Stadtbewohner ihm den Weg erklären, nicht ganz eigene Geschichten stecken.
Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Ich bin noch immer nicht ganz sicher, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Im Grunde genommen bin ich nur hier, weil mein jüngerer Bruder mich überredet hat, in seine Nähe zu ziehen. Unsere Eltern sind im letzten Jahr verstorben und er kommt mit dem Verlust nur schwer zurecht (nicht, dass er sich das jemals eingestehen würde!). So habe ich die Großstadt nicht ganz freiwillig hinter mir gelassen - und wünsche mich manchmal sehnlichst dorthin zurück.
In Greiffenstein kennt jeder jeden. Das sollte für jemanden wie mich, einen Pfarrer, doch ein Glücksfall sein, mögen Sie einwenden. Möglicherweise glauben Sie, dass gerade im Kleinen der Keim für eine funktionierende Gemeinschaft besonders gut gedeihen kann. Man kennt sich, man kann sich aufeinander verlassen und im Notfall stehen Nachbarn füreinander ein.»Auf dem Land ist es doch fantastisch!«, höre ich Sie sagen. »Hier ist die Welt doch noch in Ordnung.« Darf ich offen zu Ihnen sein?
Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich fürchte mich und kann Ihnen zu meiner Schande nicht einmal genau sagen, wovor. Bitte sparen Sie sich ihre Sprüche über Teufel und Dämonen; ich mag zwar ein Mann Gottes sein, doch das bedeutet nicht, dass ich nicht in der Lage bin, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden! Glauben Sie mir einfach... Nehmen Sie sich ein Zimmer und bleiben Sie ein paar Tage, ein paar Wochen oder Monate - und Sie werden mich vielleicht verstehen. Wenn Sie dieses Fleckchen Erde, das bei Tag besehen so idyllisch zu sein scheint, erst einmal in einer stürmischen Nacht erleben, wenn der Wind um die Dächer pfeift und an den alten Läden rüttelt, der Wald bedrohlich und finster wirkt und der Umriss der Burg sich mit jedem Blitz deutlich vor den Hügeln abzeichnet, dann... Ja, dann werden Sie möglicherweise das fühlen, was ich schon lange spüre.
Ich bleibe, denn wenn ich meinen Schäfchen nicht Hoffnung gebe, ihnen Mut zuspreche und ihnen ihre Ängste nehme, wer sollte es an meiner statt tun? Solange ich Pfarrer dieser Gemeinde bin, steht die Tür der Kirche jedermann offen, bei Tag und bei Nacht.
Allerdings weiß ich nicht, wie lange ich noch bleiben kann. Die schlaflosen Nächte werden immer zahlreicher, um mein Nervenkostüm ist es zunehmend schlechter bestellt... Und dann erreichte mich vor ein paar Tagen auch noch diese seltsame Botschaft. Nach einem anstrengenden Arbeitstag und der Nachtwache am Bett einer Sterbenden, holte ich meine Post aus dem Briefkasten und fand zwischen Rechnungen und Zeitungen einen kleinen, unscheinbaren Zettel. Sofort fiel mir die Beschaffenheit des Papiers ins Auge: Pergament. Auch, dass die Nachricht mit Tinte verfasst wurde, bemerkte ich augenblicklich und wunderte mich. Die meisten Briefe, die ich erhalte, sind nicht handschriftlich verfasst und sollten sie es doch einmal sein, so ist der Kugelschreiber das Mittel der Wahl. Besonders stutzig machte mich jedoch der einzige Satz, der auf dem kleinen Blatt Papier stand. Ich weiß beim besten Willen nicht, was ich damit anfangen soll!
Können Sie mir weiterhelfen? Haben Sie eine Idee?