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Nouk sah in Richtung der Bibliothek, als Chasko ihm diese zwei Fragen stellte.
Früher war es kein Problem für den vierzehnten Sohn des Klanoberhaupts gewesen, in die Bibliothek zu kommen. Und Nouk hatte viel Zeit dort verbracht oder sich Bücher von dort genommen, während seine Brüche heilen mussten und er bewegungsunfähig im Bett liegen bleiben musste. Jetzt sah das etwas anders aus. Niemand würde die beide einfach mit einem Nicken passieren lassen. Aber darauf war Nouk vorbereitet gewesen. Und ausgerechnet das Wissen, das er sich aus genau dieser Bibliothek angelesen hatte, sollte ihm nun dabei helfen, einzubrechen. Er drehte sich grinsend zu Chasko um. „Natürlich. Aber nur oberflächlich.“ Dann zog er vier Dinge aus seinen Taschen hervor. Eine Rauchbombe, die er selbst nahm und ein Blasrohr mit zwei Pfeilen, die er Chasko übergab. „Dort vorne trennt sich der Weg, ich werde einen kleinen Umweg machen und aus dem Gang von rechts kommen, so, dass sie im ersten Moment nur mich sehen. Dann zünde ich die Rauchbombe. Sie ist nicht laut, aber hüllt alles in dichten, weißen Nebel und verursacht starken Husten. Zumindest im Umkreis von zehn Metern, für fast 20 Sekunden. Das ist deine Zeit, so lange darfst du brauchen, um die beiden mit den Pfeilen zu treffen. Die Pfeile enthalten ein Schlafmittel stark genug, um die beiden für eine Stunde außer Gefecht zu setzen. Bis dahin sind wir längst wieder weg.“ Nouk war sich sicher, dass so ein einfacher, simpler Plan reichen würde. Er war absurd. Aber normalerweise wurden Eindringlinge lange bevor sie hier ankamen bemerkt. „Also mach schnell und… triff ja nicht mich!“, meinte er dann noch mit einem spöttischen Blick zu Chasko, ehe er umdrehte und in einen anderen Gang verschwand, um den kurzen Umweg zu nehmen und sich von einer anderen Seite an die beiden Wächter annähern zu können. Tatsächlich brauchte er nur ein paar Minuten. Chasko war sicher auch schon irgendwo, wo er gut beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Nouk vertraute ihm vollkommen dabei. Und so schritt er auch ohne zu zögern, aber mit einigem an Anspannung auf die beiden Wächter zu. Sie schenkten ihm erst Beachtung, als er bis auf wenige Schritte nah kam, aber da war es ohnehin schon zu spät. Nouk zog sein Halstuch nach oben, holte die Rauchbombe hervor, warf sie und mit dem Atemzug, mit dem einer der Vampire schon aufrufen wollte, sog er den weißen, dichten Rauch ein. Nouk schloss die Augen, begann zu zählen und wich den ungelenken Bewegungen der hustenden Vampire aus, um auf die ander Seite, hoffentlich außer Chaskos Schusswinkel zu kommen.
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Der Plan klang verdächtig nach solchen, die sie zu ihrer Kinderzeit geschmiedet hatten. Und damals war so etwas grundsätzlich immer schief gegangen. Aber jetzt waren Nouk und Chasko keine Kinder mehr. Vielleicht reichte das ja als Begründung, damit so etwas lachhaftes gut gehen konnte.
Chasko tat, was Nouk ihm gesagt hatte. Er schlich sich von der anderen Seite an, hielt genügend Abstand, um nicht von dem Nebel der Rauchbombe erfasst zu werden. Aber der Plan hatte doch einen nicht ganz unerheblichen Haken, der Chasko fast einen Moment zu spät auffiel. Der Nebel war dicht. Dicht genug, um Chaskos beiden Ziele komplett einzuhüllen und unsichtbar zu machen. Der Vampir verkniff sich das Fluchen darüber und konzentrierte sich stattdessen auf das laute Husten und die Präsenzen seiner Opfer. Er hatte nur zwei Schuss und jeder musste treffen. *Mit einem Blasrohr... ich bin doch kein Indianer...* Trotzdem setzte Chasko das Rohr an seine Lippen, versuchte einigermaßen zu zielen und feuerte den ersten Schuss ab. Er hatte keine Ahnung, ob er getroffen hatte, aber er hoffte es einfach mal. Schnell zielte er auf die zweite Gestalt und schoss noch einmal. Hoffentlich hatte es geklappt. Nervös und gespannt zugleich starrte er auf die Rauchwolke, die sich langsam verzog. Erst, als sie sich fast gänzlich aufgelöst hatte, konnte man zwei kräftig gebaute Vampire auf dem Boden liegen sehen. Es hatte geklappt. Chasko atmete auf und trat aus dem Schatten hervor. Er wartete nicht auf Nouks Anweisungen. Im Grunde waren sie doch sowieso am Ziel. Es waren keine weiteren Gegner in der Nähe. Also ging Chasko schnurstracks auf die Tür der Bibliothek zu und stieß sie auf.
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Nouk blickte über Chaskos Schulter in die Dunkelheit.
Seine Augen brauchten kurz, aber dann gewöhnten sie sich an das wenige Licht dort und man konnte selbst dann nur erahnen, wie viele Bücher dort gelagert waren. Es mussten hunderttausende sein. Bücher, Schriftrollen, lose Blätter. Alles in Regalen aus altem Holz, das der schweren Last tapfer standhielt. Seit Jahrhunderten. Nouk drängte sich an seinem Bruder vorbei und lief gezielt einzelne Gänge ab, den Blick hektisch suchend über die Buchrücken schweifend. Er wusste, wo er suchen musste. Zumindest ahnte er es. Mit solcherlei Dingen hatte er sich vor sehr vielen Jahren beschäftigt, und das nur oberflächlich. Tiefer und tiefer kam er in den eigentlich riesigen, katakombenartigen Saal mit all dem gelagerten Wissen. Nouk begann mit den Fingern suchend über die Einbände zu streichen, als er daran entlangschritt, holte seine Tasche hervor und nahm hier und da ein Buch oder eine Schriftrolle weg. Nur ab und an ließ er sich die Zeit, seine Auswahl kurz zu betrachten und zu prüfen. Und mit jeden Schritt, stieg seine Nervosität eigentlich. Er versuchte sich zu merken, wo Chasko war, versuchte seine Anwesenheit zu erahnen und die Geräusche zuzuordnen, die er wahrnahm. *Wenn sie jetzt kommen, wird es schwer, wieder ungeschunden zu fliehen. Und dem Wissen hier und in meiner Tasche darf eigentlich nichts passieren.* Nouk blieb wieder stehen und zog ein großes, braunes Buch aus seinem Platz. Allerdings musste es sich irgendwie mit dem Buch daneben verhakt haben, es wurde mitgezogen und viel mit flatternden Seiten zu Boden. Nouk blieb für eine Sekunde wie erstarrt, dann beuget er sich hinab, um es aufzuheben. Es war ein dunkelrotes, sehr dünnes Buch. Handgeschöpfte Seiten, uralt. Er klappte es auf, aber die Schrift kam ihm nur vage bekannt vor. Und sie war fast bis ins unkenntliche verblasst. Zeichnungen waren auch dabei. Aber sie waren nicht aus Tusche… Nouk hob die Seiten leicht an und sog den Geruch ein. Blut. Eindeutig. Sehr alt und fast vergilbter als die Seiten selbst, aber dennoch Blut. Nouk runzelte die Stirn. Damit konnte er kaum etwas anfangen. Nouk wollte es schon unbeachtet zurückstellen, als er bis zur zweiten Hälfte des Buchs durchblätterte. Dort fehlte ein Stück der Seiten. Mittendrin. Jemand hatte eine rechteckige Form in die Seiten geschnitten, so, dass sie einen Hohlraum bildeten, sobald das Buch geschlossen war. Und darin lag ein kleiner, schimmernder Gegenstand. Neugierig nahm Nouk ihn heraus und ließ das Buch sinken. Es war eine Glasphiole an einer Kette. Durchsichtig, mit goldenen Ornamenten verziert und mit rotem Wachs versiegelt. Darin eine dunkle, fast schwarze Flüssigkeit. Jetzt konnte Nouk sich endgültig keinen Reim mehr auf alles machen. Aber seine Gedanken wurden ohnehin unterbrochen. Stimmen, Präsenzen, viel zu nahe. Ohne lang zu überlegen, legte er sich die Phiole um, packte die letzten paar Bücher schnell zusammen und lief zurück, dorthin wo er Chasko vermutete.
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Bei der Büchersuche konnte Chasko Nouk nicht wirklich helfen. Er war in seiner Kindheit so gut wie nie hier gewesen und wenn, dann nicht freiwillig. Lesen war ihm immer zu langweilig gewesen. Nouk war da ganz anders als er.
Also beschränkte Chasko sich darauf, aufzupassen, dass ihnen niemand zu nah kam und die schlafenden Wachen brav liegen blieben und keine Aufmerksamkeit erregten. Eine Zeit lang ging das auch tatsächlich gut. Absolut niemand schien bemerkt zu haben, dass sie hier eingedrungen waren. Vermutlich trainierten sie einfach alle, waren zu beschäftigt. Und vermutlich konnten sie auch einfach nicht glauben, dass jemand so einfach in den Hauptsitz eindringen konnte. Ein Grinsen huschte über Chaskos Gesicht. So gesehen mussten er und Nouk inzwischen doch ganz schön stark sein. Früher hatten selbst die Kindermädchen, die eher geringe Fähigkeiten besaßen, immer gewusst, wo Nouk und er sich innerhalb der Schlossmauern aufhielten. Ganz egal, wie gut sie sich versteckten. Diese Zeiten waren vorbei. Trotzdem wurde Chasko nach einer Weile mit jeder Sekunde nervöser. Er wusste nicht, wie lange Nouk schon nach irgendetwas suchte, was vielleicht gar nicht hier war. Aber Vsellénnaja schien leicht zu erzittern, immer wenn Chasko eine Präsenz ausmachte, die sich ihnen näherte. Meistens drehte die Person ab, bevor sie überhaupt in unmittelbare Nähe der Bibliothek kam. Selten kam ihnen jemand wirklich nahe. Aber nicht nah genug, um zur Gefahr zu werden. Noch nicht. Ein Umstand, der sich ändern sollte. Chasko hielt die Luft an, als gleich mehrere Präsenzen auf einmal sich in Richtung Bibliothek bewegten. Fünf... nein, sechs Vampire. Und keiner davon schwach. *Die wollen nicht hier her... die gehen wo anders hin...*, versuchte Chasko sich einzureden. Aber sie kamen näher und näher, bis Chasko sogar ihre Stimmen hören konnte, wenn er auch noch nicht verstand, was sie redeten. Und noch etwas wurde ihm bewusst. Sie waren schnell. Sie hatten es eilig. Sie hatten es eilig, damit die Eindringlinge nicht verschwinden konnten, bevor sie da waren. Schnell wirbelte Chasko herum, auf der Suche nach Nouk. Zum Glück kam sein kleiner Bruder sowieso schon auf ihn zugelaufen. "Was jetzt? Hast du, was du wolltest?", zischte Chasko unnötigerweise noch immer leise. Sie waren sowieso längst entdeckt worden. Und gleich würden sie da sein. Instinktive legte Chasko seine Hand auf den Griff seines Schwerts. Er hatte sich vorgenommen, es heute nicht zu verwenden, aber gottverdammt, er würde es tun, wenn man ihn dazu zwingen würde. Sein Blick war auf die Tür gerichtet, darauf wartend, das dort gleich jemand auftauchen würde. Es ging schneller, als Chasko erwartet hatte. Aus dem Schatten hinter der sprang mit einem Mal eine Gestalt hervor, direkt auf Chasko zu. Der Vampir hatte nicht einmal mehr die Chance, sein Schwert zu ziehen. Schwungvoll wurde er zu Boden gerissen. Irgendetwas schweres, hartes traf sein Gesicht, schleuderte seinen Kopf brutal zur Seite. Ein Wunder, dass ihm der Schlag nicht gleich das Genick brach. Es dauerte eine wertvolle Sekunde, bis Chasko die Fassung wieder fand, seinen Angreifer packte und in die Höhe schleuderte, ehe er selbst wieder auf die Beine sprang und ihn gegen die Wand presste. Und noch einmal vergeudete er wertvolle Sekunden, in denen er erkannte, wer ihn so einfach von den Füßen gerissen hatte. Es war Konstantin. Er war ein paar Jahre älter als Chasko, aber nicht erwähnenswert viel. Sie hatten miteinander gespielt, waren miteinander trainiert worden, waren zwar nie wirkliche Freunde gewesen, aber doch irgendwie miteinander verbunden. Sie waren Klankinder derselben Generation. Und in einer Zeit, in der es weder Fernsehen noch Internet gegeben hatte, verband so etwas ungemein. Chaskos Blick fiel auf seinen Arm. Beziehungsweise, die Stelle, wo sein Arm hätte sein sollen. Da war... nichts. Das Schwert an Chaskos Seite schien zu lachen. Zumindest kam es ihm so vor. Und als er die Schulter, an der ein Arm hätte sein sollen, genauer betrachtete, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Es war keine gewöhnliche Waffe gewesen, die das getan hatte. Es war sein Schwert gewesen. Und der Führer des Schwertes war niemand anders gewesen, als Chasko. Er hatte Konstantin das angetan. Chasko schluckte und er fand zurück zu Konstantins hasserfüllten Augen. *Töte ihn doch einfach... er ist egal... sie sind alle egal...* Es wäre so einfach gewesen. Aber Chasko tat es nicht. Stattdessen schleuderte er Konstantin einfach auf die anderen fünf Vampire, die in den Raum gestürmt waren, um so zumindest ein paar Sekunden zurück zu gewinnen, um wieder zu Nouk herum zu wirbeln. "Komm schon! Wir müssen hier weg!"
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![]() Bin nicht da, bin mich suchen gegangen. Falls ich wieder da bin, bevor ich zurück komme, sagt mir, dass ich auf mich warten soll ![]() Geändert von KittenUpATree (16.09.2012 um 03:32 Uhr). |
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Nouk stand die ganze, kurze Ewigkeit über wie erstarrt da, als die Vampire auftauchten. Sie waren aus der Tür heraus getreten und hatten einen Halbkreis davor gebildet. Konstantin war der Einzige gewesen, der auf Chasko zugestürzt war, auf Nouk war noch niemand losgegangen.
Es hätte Chaskos Worte trotzdem nicht bedurft. Fast im selben Moment, in dem die fünf anderen Vampire Konstantins Fall abfangen mussten, rannte Nouk los. Aber nicht auf die Vampire oder die Tür zu. Selbst, wenn sie es an den sechs Vampiren vorbei schafften, mussten sie die Gänge zurück, bis sie einen Spiegel fanden. Die Chancen, erwischt zu werden, waren groß. Und Nouk kannte die Bibliothek in und auswendig. Sicher besser, als Konstantin und seine Kumpanen. Nouk zog Chasko die ersten paar Meter hinter sich her, dann ließ er los, damit sie besser laufen konnten. Er bedeutete Chasko nur mit einem Blick, ihm weiter zu folgen. Der jüngere Vampir hetzte die erst breiten und besser ausgeleuchteten Gänge zwischen den Büchern entlang, dann wurden sie immer schmaler, teilweise standen die Regale so eng, dass man gerade einmal von einer bis zur anderen Schulter Platz dazwischen hatte. In so einen Gang bog Nouk ab, verfolgte ihn weiter, bis zum Ende, wo eine dunkle, gemauerte Wand eine Sackgasse festlegte. Aber Nouk wusste es besser. Er ließ sich zu Boden fallen und schob die Finger zwischen einen breiten, lockeren Stein unten am Boden und drückte ihn in die Wand. Es kostete ihn einiges an Mühe, aber das Ding löste sich knirschend und verschwand in dem düstren, schmalen Gang dahinter. Der Eingang war gerade mal hoch genug, dass man hineinrobben konnte, der winzige Tunnel dahinter ließ wenigstens genug Platz, auf Knien zu kriechen. Nouk wandte sich zu Chasko um, drängte sich an ihm vorbei. „Du zuerst, wer weiß, ob du überhaupt durch passt.“ Nouk selbst hatte diesen Hohlraum eher durch Zufall entdeckt. Hier hinter kam kaum jemand, Nouk vermutete seit 500 Jahren der Einzige zu sein. Der Staub hatte sich hier in die Bücher gefressen und war fast schon sandig und fest. Normalerweise würde man den Eingang durch den Stein und halb hinter einem Regal verborgen, nie bemerken. Und jetzt war es ein einfacherer Ausweg, als das sie gegen die sechs kämpfen wurden. Sie waren alle von der Statur so wie Chasko oder eher noch größer, sie würden eher Probleme haben, dort durch zu kommen. Und vor allem würden sie es nicht schnell schaffen.
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Chasko hatte erhebliche Probleme, in das schmale Loch zu kommen, das Nouk in der Wand geöffnet hatte. Unter anderen Umständen hätte er nicht mal versucht da rein zu kommen. Aber es war wohl oder übel ihre einzige Chance zu entkommen, falls sie nicht kämpfen und ein paar Vampiren den Kopf abschlagen wollten. Und da Nouk diese Expedition leitete... quetschte Chasko sich eben in viel zu kleine Öffnungen. Der harte, raue Stein zerriss ihm den Mantel an den breiten Schultern und nahm auch noch gleich ein paar Hautfetzen mit. Chasko biss die Zähne zusammen und kroch trotzdem weiter, versuchte sich so klein wie nur möglich zu machen. Dieser Gang war definitiv nicht für Männer geeignet. Erst nach einigen Metern wurde er endlich breiter, so dass Chasko sich zumindest nicht mehr die Schultern und die Knie wund rieb. Irgendwann konnte er sogar beinahe aufrecht stehen, was eine erhebliche Erleichterung für die Fortbewegung war. Hoffentlich würden die Idioten, die sie verfolgten, es mindestens genauso schwer haben. Oder gleich ganz stecken bleiben.
In dem Gang war es selbst für Vampirverhältnisse stockdunkel. Nicht der kleinste Lichtschein war mehr zu sehen. Vollkommen blind und trotzdem in beachtlichem Tempo bewegte Chasko sich vorwärts. Wenn der Gang in einer Sackgasse enden würde, würde Chasko wohl oder übel mit voller Wucht gegen die Wand laufen. Aber er baute einfach mal darauf, dass Nouk sich auskannte und der Gang irgendwohin führte, von wo aus sie flüchten konnten. Ab und an wurde Chasko langsamer, um sich auf den Gang hinter sich zu konzentrieren. Anfangs hatte er auch ihre Verfolger noch im Nacken spüren können. Jetzt war da nur noch Nouk. Sie hatten sie abgehängt. Zumindest vorerst. Vielleicht aber wusste auch einer von ihnen, wohin der Gang führte und jetzt würden Nouk und er ihnen in die Arme laufen. Endlich konnte Chasko einen dünnen Lichtschein ausmachen. Er wurde langsamer und tatsächlich erreichten sie schließlich eine Art Tür, durch deren unteren Rand das Licht fiel. Vorsichtig tastete Chasko nach einem Mechanismus, um diese zu öffnen. Es dauerte wertvolle Sekunden, bis er einen losen Stein in der Wand fand und ihn hinein drückte. Die Tür war klein, wenn auch nicht so winzig, wie der Durchgang in der Bibliothek. Und sie schwang nur gerade so weit auf, dass ein Kind leicht hindurch schlüpfen konnte. Aber Chasko hatte - erneut - erhebliche Probleme, sich hindurch zu quetschen. Das Licht kam von den großen Fenstern, die bis unter die Decke reichten. Die Sonne stand bereits auf dem höchsten Punkt. Es gab nur wenige Räume, in denen die Fenster nicht durch schwere Vorhänge verdeckt waren. Dieser war einer davon. Ein Kinderzimmer. Nicht irgendein Kinderzimmer. Es war das Zimmer, das sich vor Jahrhunderten Chasko und Nouk geteilt hatten. Wie erstarrt blieb Chasko stehen. Es hatte sich kaum etwas verändert. Die Spielzeuge waren neuer und moderner und natürlich waren auch die Möbel ersetzt worden. Aber die geschützte Atmosphäre, die Wärme, die dieser Raum bot, war noch immer dieselbe.
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Im Gegensatz zu Chasko hatte Nouk keine Probleme, überall hindurch zu kommen und sich fortzubewegen. Statt aufgerissenen Kleidern und zerfetzter Haut, hatte er nur etwas Staub im Haar, sonst nicht einen Kratzer.
Natürlich hatte Nouk gewusst, wo der Gang hinführte, aber er hatte im Moment ihrer Flucht nicht daran gedacht. Es war schon einige Jahre her, dass er den Gang überhaupt benutzt hatte. Schon damals war er verblüfft gewesen. Jetzt aber, 400 Jahre später, stand er viel ruhiger, als Chasko da. Für ihn war die Überraschung ja nicht so groß. Mit einem leicht amüsierten Grinsen sah Nouk zu seinem Bruder. „Fast, wie nach Hause kommen, nicht?“, beschrieb er vage das dumpfe Gefühl, das diesen Raum erfüllte, „Warum spielen wir nicht ein bisschen?“ Der kindliche Teil in Nouk stimmte sofort begeistert zu, aber sie waren hier nicht zum Spaß hergekommen. Gern hätte er mit Chasko hier wieder allerlei Blödsinn angestellt, jedoch würde man ihnen jetzt den Kopf abschlagen, sobald man sie erwischte. Nouk ging einige Schritte durch das Zimmer, auf den Spiegel zu, der neben der Kommode stand. Er hatte die Finger gerade auf die glatte Oberfläche gelegt, als ihn etwas Hartes, Kleines am Hinterkopf traf. Nouk wirbelte herum, zwar alarmiert aber in derselben Sekunde auch schon verwirrt, warum ihre Verfolger sie mit Steinen oder sowas bewarfen. Und als seien gelben Augen dann doch herausfanden, was sie da angriff, hätte er fast laut loslachen müssen. Noch ein Stück hinter Chasko, neben dem Kamin, halb hinter einem der Vorhänge an der Tür versteckt, standen die zwei Kinder, die nun wohl dieses Zimmer teilten. Es waren, wie vor 500 Jahren, beides Jungen, ein etwas Größerer und ein Kleinerer, der sich an seinen großen Bruder klammerte aber versuchte, genauso grimmig und böse dreinzuschauen, wie der Holzklotzwerfer. „Wenn… wenn ihr was tut, dann schreien wir und sie finden euch sofort! Also seid lieber schön brav, sonst werdet ihr schon sehen!“ – „Genau!“ So sah die Drohung der beiden Winzlinge aus, die die beiden erwachsenen Vampire misstrauisch anstarrten. Natürlich musste es für sie sehr verdächtig und außerordentlich beunruhigend sein, wenn da plötzlich zwei Fremde in ihrem Zimmer standen – vermummt und Chasko teilweise zerkratzt.
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Chasko zog eine Augenbraue hoch. Er hatte keine Ahnung, wer die Zwerge waren. Sie konnten irgendwelche Klankinder sein. Aber vielleicht - ganz vielleicht - waren sie auch seine Geschwister. Er hatte keine Ahnung, wann seine Mutter das letzte Mal schwanger gewesen war. Auch nicht das vorletzte Mal. Er wusste lediglich, dass er wohl noch so einige jüngere Geschwister hatte, die er alle nicht kannte. Vielleicht gehörten die Zwerge dazu.
Einen Moment lang blieb Chasko noch stumm stehen, hörte sich die Drohung der Kinder an. Dann aber zog er sich die Kapuze vom Kopf. Vielleicht erkannten sie ihn von irgendwelchen Fahndungsplakaten oder so. Vielleicht aber auch nicht. Es war ohnehin egal. Sie hatten so oder so Angst. Er ging ein paar Schritte auf die beiden zu, blieb dann aber doch in gebührendem Abstand stehen. "Ihr seid Brüder.", stellte er ruhig fest. Dann huschte der Hauch eines Lächelns über sein Gesicht. "Wir auch." Seine Augen fixierten den älteren der beiden. Nicht auf angsteinflösende Weise. Das hatte er dank seinem Lehrerdasein inzwischen ganz gut drauf. Stattdessen wirkte er geradezu freundlich. "Pass gut auf deinen kleinen Bruder auf. So wie ich auf meinen aufpasse." Er zwinkerte ihm kurz zu, ehe er sich wieder zu Nouk umwandte. Sie waren schon viel zu lange hier. Mit ein paar wenigen Schritten war er bei ihm, neben dem Spiegel.
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Nouk grinste, als Chasko die beiden Kleinen mit derlei Worten gleichermaßen verwirrte, wie beeindruckte.
Sagen konnten die beiden jedenfalls nichts mehr, sondern starrten vor allem den größeren Vampir nur verdutzt an. Mit so einer lieben Handlung hatten sie wohl nicht gerechnet. Kein Wunder, sonst waren Fremde schon eine Bedrohung. Und Chaskos Gesicht mussten sie schon von anderen immer nur mit den Worten Verräter, Schande und Gefahr gehört haben. Ebenso das nachtschwarze Schwert an seiner Seite. Und jetzt tat man ihnen nichts an. Nouk griff wieder nach Chaskos Arm, um ihn durch die Spiegelwelt zu führen. Als seine andere Hand schon in der glatten, klaren Oberfläche eintauchte, blickte Nouk noch einmal über die Schulter zurück. Die beiden Kinder waren noch immer an derselben Stelle, die Tür hinter ihnen flog auf und Konstantin stürmte herein, in der Hand eine Pistole. Zielte, drückte ab. Er tat das alles in Sekundenbruchteilen. Und war doch zu langsam. Als die Kugel den Spiegel erreicht hatte, waren Chasko und Nouk schon längst verschwunden und nur das Glas splitterte unter dem Einschlag und fiel klirrend zu Boden. (=> Keller)
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