|
||||
![]()
Chasko zögerte, schluckte, nahm dann aber allen Mut zusammen und trat durch die große, schwere Eichentür, hinter der Vlad auf ihn wartete, sicher noch ohne zu wissen, wen er da herein gebeten hatte.
Vlad saß über einem uralten, schweren Buch. Die Landkarten, die sonst auf seinem Tisch ausgebreitet waren, lagen sauber zusammen gerollt auf der Seite. Diese frühen Abendstunden, in denen die meisten Vampire noch schliefen und die Kinder schon fürs Bett fertig gemacht wurden, nutzte der alte Vampir, um ungestört anderen Dingen nach zu gehen, als Krieg, Kämpfen, Land, Nahrung, Wohlstand und Ehre. Er mochte es ganz und gar nicht, zu dieser Zeit gestört zu werden. Dementsprechend streng war sein Blick, als er aufsah. Nouk erkannte er sofort, aber er war nicht allein. Da war noch ein zweiter junger Mann, dessen Präsenz aber unter einem Schleier lag. Trotzdem erkannte Vlad ihn sofort, als er in die eisblauen Augen blickte. Blitzschnell war er auf und über den Tisch hinweg gesprungen. Das Schwert, das eben noch gegen die Wand gelehnt gewesen war, lag jetzt fest in seiner Hand und die Spitze deutete auf Chaskos Brust. Vlad musste nur noch zu stechen. Er war zu schnell, als dass irgendjemand ihn hätte aufhalten können. Schon gar nicht Chasko, der in seiner jetzigen Gestalt nicht einmal die Möglichkeit hatte zu reagieren. Aber Vlad führte die Bewegung nicht zu Ende. Stattdessen blieb er vor seinen beiden Kindern stehen, in der Position eines Kriegers. "Du kannst dich nicht wehren.", stellte er trocken fest. Chaskos Herz raste, wie seit über 500 Jahren nicht mehr. Ein Gefühl, dass er schon vollkommen vergessen hatte. Er atmete tief durch, starrte das Schwert vor sich mit eindeutig angstvollem Blick an, unterdrückte den Impuls, zurück zu weichen und senkte nach zwei Mal tief durchatmen beschämt den Kopf. "Nein. Kann ich nicht. Ich wurde... Dva hat..." Er biss sich auf die Unterlippe. Irgendwie fand er nicht die richtigen Worte, um zu erklären, was passiert war.
__________________
![]() Bin nicht da, bin mich suchen gegangen. Falls ich wieder da bin, bevor ich zurück komme, sagt mir, dass ich auf mich warten soll ![]() |
|
||||
![]()
Nouk selbst war recht erstaunt über die sofort aggressive Reaktion ihres Vaters. Aufmerksam ging sein Blick zwischen Vlad und Chasko hin und her. Chasko versuchte zu erklären, er roch quasi nach Angst. Und Schwäche...
Langsam machte Nouk einen Schritt vor, legte eine Hand sacht gegen Vlads Schwert und schob es zur Seite, dass es nicht mehr auf Chaskos Brust gerichtete war, gleichzeitig trat er halb vor seinen älteren Bruder. „Chasko ist hier, weil er deine Hilfe braucht.“, sagte Nouk dann ganz einfach und versuchte Vlads Blick fest zu bannen. „Dva hat ihn durch einen dummen Streich in diese Situation gebracht. Die Wirkung ist nicht wie gewohnt verflogen.“, begann Nouk zu erklären, musste schnell weiter machen, dass keiner der beiden ihm ins Wort fiel, „...und das schon seit einigen Monaten jetzt. Ich kann kein Gegenmittel finden, nichts hilft. Irgendetwas stimmt nicht... wir hatten gehofft, du könntest etwas wissen... Chasko wollte zu dir.“
__________________
|
|
||||
![]()
Chasko war dankbar, dass Nouk ihm das Reden abnahm. Vorsichtig blickte er wieder auf und versuchte die Reaktion in Vlads Augen zu lesen. Aber die waren noch immer starr auf ihn gerichtet und verrieten keinerlei Gefühlsregung. Weder Mitleid, noch Wut oder Schadenfreude.
Vlad ließ sein Schwert wieder sinken, drehte sich um und ging zurück zu seinem Schreibtisch. Er sagte kein Wort, schlug das Buch, in dem er gelesen hatte zu und stellte es zurück ins Regal. Danach studierte er die Titel der daneben stehenden Bücher. Chasko erwartete schon überhaupt keine Antwort mehr und überlegte, ob er einfach gehn sollte, als sein Vater endlich zu sprechen begann. "Ich weiß nicht, wie ich dir helfen sollte. Ich weiß noch nicht einmal, was Dva dir gegeben hat. Tschetiernadzatch hat sich garantiert ausführlich mit dem Thema beschäftigt und konnte auch keine Lösung finden." "Aber du weißt ALLES!" Chasko wusste nicht, woher er die Kraft nahm, so etwas in derartiger Lautstärke und mit so viel Wucht auszusprechen. Vielleicht war es ja der Teenager in ihm, der damals wirklich genau dieser Überzeugung gewesen war. "Dva hat mir einfach nur irgendwelche Süßigkeiten gegeben. Die Wirkung sollte überhaupt nicht so lang andauern. Das ist nicht normal. Irgendetwas läuft da falsch. Du musst sowas doch schon mal gesehn haben, immerhin..." "Immerhin bin ich steinalt?", führte Vlad Chaskos Satz zu Ende, während er sich wieder den beiden Jungen zu wandte. Aber in seinen Augen war nichts bedrohliches. Ein eher seltenes Bild. Stattdessen wirkte er nachdenklich. Als würde er in seinem Kopf jede Situation der Vergangenheit durch gehen, die der diesen in irgendeiner Weise glich. "Wenn die Süßigkeiten nicht so wirken sollten, dann muss der Fehler bei dir liegen." Seine Augen fixierten Nouk. "Was fällt dir dazu ein?"
__________________
![]() Bin nicht da, bin mich suchen gegangen. Falls ich wieder da bin, bevor ich zurück komme, sagt mir, dass ich auf mich warten soll ![]() |
|
||||
![]()
Nouk war eindeutig geduldiger, als sein Bruder, wartete auf eine Antwort, war aber doch auch von Chaskos Worten erstaunt. Er war so... anders. Irgendwie wieder so, wie Nouk ihn noch in Erinnerung hatte, wie er ihn damals so geliebt und bewundert hatte...
Als Vlad die Frage aber dann an ihn stellte, wusste Nouk erst nicht so recht, was er sagen sollte. Er senkte den Blick, dachte nach, genau so, wie Vlad es gerade getan hatte, ging Situationen und sein Wissen noch einmal durch. Aber diesmal mit den Worten seines Vaters als Leitfaden. Er suchte nicht nach etwas Fremden, das er bekämpfen musste, nicht nach einem Parasiten. Er suchte nach dem, was an Chasko nicht stimmte. „Die Süßigkeiten verlieren ihre Wirkung nach einer Woche und stellen den ursprünglichen Alterszustand wieder her... bei Vampiren mag da manchmal Verwirrung vorkommen, aber es gleicht sich immer aus, selbst nach einiger Zeit mehr...“, begann er leise zu sprechen, „Chasko bleibt ein Jugendlicher... genau genommen in etwa die Zeit, in der er den Klan verlassen hat.“ Verraten, hintergangen, diese Worte übersprang Nouk wohlwissentlich. „Da liegt der Knackpunkt.“, meinte er dann etwas lauter, blickte auf, erst zu ihrem Vater, dann zu Chasko, musterte ihn. „Irgendetwas liegt da, genau in diesem Alter, es ist... Chasko steht sich selbst im Weg. Seine Seele hindert seinen Körper daran, sein älteres Aussehen anzunehmen. Vielleicht... spielt Chasko schon eine ganze Weile Maskerade. Auch für sich selbst.“ Die letzten Worte waren wieder leiser und Nouk hatte den Blick von Chasko abgewandt. Das hatte er schon einmal gedacht. Chasko war manchmal so eisig, wie er es vor 500 Jahren nicht gewesen war. Chasko sagte immer, man verändere sich eben mit der zeit. Aber für Nouk war das schwer begreiflich. Der fröhliche, forsche Junge von damals, der die Welt hatte sehen wollen... und der Chasko, der nur noch eines im Sinn hatte, das so sehr in Hass und Böses gewickelt war, dass es ihn vollkommen einnahm...
__________________
|
|
||||
![]()
"Das ist doch totaler Blödsinn! Es liegt nicht an mir! Das sind die Süßigkeiten!", widersprach Chasko laut, während sein Blick zwischen Vlad und Nouk hin und her schnellte, wie bei einem Tennisspiel. Dann aber blieb er bei seinem Vater hängen.
"... oder?" Vlad lehnte sich in seinem Sessel zurück und blickte zur Decke hinauf. Sie war erst vor gut 200 Jahren von einem britischen Künstler neu gestaltet worden. Da wo früher kalter Stein gewesen war, blickten nun Verschnörkelungen, in denen immer wieder das Wappen der Dracul zu finden war auf ihn herab. Ein Hochzeitsgeschenk von Ilona. Er mochte es gern. Der kreative Fluss der Linien half ihm beim Nachdenken. "Ich denke, Nouk könnte damit durchaus richtig liegen. Vielleicht warst du einfach nicht mehr du selbst und kannst deshalb nicht mehr dahin zurück." Diese Antwort gefiel Chasko ganz und gar nicht. Er spürte, wie sein Herz schon wieder zu rasen begann und Wut und Verzweiflung in ihm hoch kochten. "Und was jetzt? Muss ich für immer so bleiben? Oder wieder 500 Jahre trainieren, um so stark zu werden?" Das durfte einfach nicht wahr sein. Alles umsonst. Ein halbes Jahrtausend. Verschenkt. Vlad blickte wieder zu Chasko und dieses Mal war sein Blick eindeutig streng und böse. "In meinem Arbeitszimmer wird nicht rum geschrien. Das habe ich dir schon tausend Mal gesagt. Das ist kein Spielzimmer." Chasko biss die Zähne zusammen, als er wieder zu einem Kind degradiert wurde. Hilfe suchend sah er zu Nouk. Irgendwie musste man ihm doch helfen können.
__________________
![]() Bin nicht da, bin mich suchen gegangen. Falls ich wieder da bin, bevor ich zurück komme, sagt mir, dass ich auf mich warten soll ![]() |
|
||||
![]()
Wenigstens sein Vater gab ihm recht. Chasko aber nicht... irgendwie typisch. Das war das Problem.
"Und was jetzt? Muss ich für immer so bleiben? Oder wieder 500 Jahre trainieren, um so stark zu werden?" Nouk schloss kurz die Augen, um Chasko deshalb nicht anzubrüllen. Ihr Vater wollte ja nicht, dass sie jetzt die Nerven hier drin verloren. Trotzdem war seine Stimme scharf, als er sich zu Chasko umdrehte und eine vorwurfsvolle Geste machte. „Siehst du! Das ist es... warum willst du jetzt genau 500 Jahre trainieren? Warum? Du hast es doch getan, um Vater zu besiegen! Willst du das immer noch? Ist es wirklich das, was du willst?“, zischte Nouk. Seine bernsteinfarbenen Augen glühten, etwas wütend... viel eher aber auch verunsichert und ein wenig verletzt. Wieso verstand Chasko nicht? Wieso war er so darauf versteift? Er musste nur einsehen...
__________________
|
|
||||
![]()
„Siehst du! Das ist es... warum willst du jetzt genau 500 Jahre trainieren? Warum? Du hast es doch getan, um Vater zu besiegen! Willst du das immer noch? Ist es wirklich das, was du willst?“
Chasko presste die Lippen aufeinander. Er mochte es nicht, wenn Nouk so mit ihm redete. Als wäre plötzlich er der Jüngere. Aber die Frage war nicht ganz unberechtigt. Wollte er noch immer seinen Vater besiegen? Warum war er eigentlich so sauer auf ihn gewesen? Das letzte Jahrtausend hatte ihn die Umstände fast vergessen lassen und wenn er jetzt versuchte sich daran zurück zu erinnern, kamen sie ihm klein und unbedeutend vor. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Vlad schien das zu spüren, denn er stand wieder auf und trat ans Fenster, um die Vorhänge beiseite zu schieben. Die Sonne war inzwischen komplett unter gegangen. Es war eine klare Nacht und zahllose Sterne überzogen den Pechschwarzen Himmel, wie Lichter auf einem samtenen Mantel. "Trinadzatch, wenn dir so viel an Stärke liegt, dann solltest du eine Weile hier im Klan bleiben. Ein besseres Trainingsprogramm findest du nirgendwo sonst. Und fernab von deinen anderen Pflichten gelingt es dir vielleicht sogar, deinen Körper wieder mit deinem Geist in Einklang zu bringen." Alles in Chasko sträubte sich dagegen, dieses Angebot anzunehmen. Aber da war noch eine andere Frage offen. "Du willst mich wieder hier haben? Nach... allem?" Vlad drehte sich wieder herum. Seine Augen waren kühl und ernst, aber doch alles andere als bösartig. "Du bist mein Sohn und bittest mich um Hilfe." Für Vlad war das eine ausreichende Antwort. Mehr würde er dazu nicht sagen.
__________________
![]() Bin nicht da, bin mich suchen gegangen. Falls ich wieder da bin, bevor ich zurück komme, sagt mir, dass ich auf mich warten soll ![]() |
|
||||
![]()
Chasko antwortete nicht darauf, jedenfalls nicht mit Worten.
Aber man konnte ihm quasi ansehen, wie sehr er mit sich selbst kämpfte. Und sein Vater stand ihm beiseite... auch, wenn Chasko das vielleicht noch nicht ganz realisierte. Nouk sah Vlad mit dankbar und glücklich funkelnden Augen an. Er verzieh Chasko und nannte ihn seinen Sohn, das war wohl mehr, als Chasko sich je hätte erträumen können. Und nun? Blieb er wohl hier... Nouk senkte die Schultern leicht. Wenn Chasko erst einmal hier blieb, würde das heißen, dass Nouk alleine zur Schule zurück musste. Und das nur wegen Shady und den Kindern.... hätte er nicht sie dort, würde auch er bleiben, immer bei Chasko, so, wie er ihm 500 Jahre lang nachgejagt war. Aber hier ging es ja nicht nur um seine eigenen Wünsche... Nouk versuchte zu lächeln. „Ich denke, das wäre genau das, was dir fehlt, um wieder stark zu werden... und so, wie du noch vor einiger Zeit aussahst...“
__________________
|
|
||||
![]()
Genau das, was ihm fehlte.
Chasko sah Nouk mit großen Augen an, als der das sagte und dabei irgendwie traurig wirkte. "Bleibst du dann auch hier?", fragte er, als wäre es für ihn eine Selbstverständlichkeit, dass sein Bruder ihn nicht allein ließe. Erst, als er die Frage schon ausgesprochen hatte, fiel ihm wieder ein, dass Nouk inzwischen andere Verpflichtungen hatte. Es war nicht mehr wie damals vor mehr als 500 Jahren, als die beiden Brüder vor allem füreinander da waren. Es gab da ein paar Lebewesen, die Nouk noch viel mehr brauchten, als Chasko. Die Zeit, zu der das nicht so war, war ein für allemal vorbei. "Oh..." Er senkte den Blick und starrte den Boden an. "Aber... die Schule. Mein Unterricht, meine Schüler. Ich kann die doch nicht einfach hängen lassen." Wenn er ehrlich war tat er genau das, seit er geschrumpft war. Die meisten Schüler wussten noch nicht einmal, dass er ihr Lehrer war. Erneut wanderte sein Blick zu Nouk. Er wollte nicht allein hier bleiben. Aber wie konnte er von seinem Bruder verlangen, dessen Freundin und Kinder allein sitzen zu lassen? Es ging einfach nicht.
__________________
![]() Bin nicht da, bin mich suchen gegangen. Falls ich wieder da bin, bevor ich zurück komme, sagt mir, dass ich auf mich warten soll ![]() |
![]() |
Lesezeichen |
Stichworte |
außenwelt |
Themen-Optionen | |
Ansicht | |
|
|